70 Jahre Kriegsende – (wie) müssen heutige Schüler daran erinnern?
„Warum erinnern? Wäre es nicht viel leichter einfach zu vergessen? Warum Vergangenes in unserer Gegenwart und Zukunft weiter ,erleben‘, wenn wir es zeitlich schon längst überlebt haben?“So leitet eine Schülerin aus dem Philosophiekurs des Hölderlin-Gymnasiums ihren Essay ein, in dem sie sich mit der Frage auseinandersetzt, wie ihre Generation mit der NS-Zeit 70 Jahre nach Kriegsende umgehen soll. Die hier aufgeworfenen Fragen beschreiben sehr gut die Herausforderungen einer heutigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Schule. Für einen Großteil der heutigen Jugendlichen ist die faschistische Diktatur Geschichte aus dem Schulbuch geworden, es fehlen mittlerweile familiäre Bezüge. Daher muss die Schule andere Zugänge liefern, die den Schülern nach wie vor die Wichtigkeit einer intensiven Aufarbeitung dieser Zeit vor Augen führt. Ein Beispiel für eine schülerorientierte Annäherung an dieses zentrale Thema der deutschen Geschichte ist ein umfassendes Projekt mit sehr unterschiedlichen schulischen und außerschulischen Heidelberger Akteuren, das im Folgenden vorgestellt werden soll.
Unter organisatorischer Leitung von Frau Dr. Bettina Alavi, Professorin für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule, und Herrn Dr. Bertram Noback, Gymnasiallehrer am Hölderlin-Gymnasium und Lehrbeauftragter am Institut für Bildungswissenschaft sowie der Pädagogischen Hochschule, wurde der Versuch unternommen, den Schülern individuelle Zugänge zu dieser Zeit zu liefern. Hierzu wurde ein verbindendes Projekt für das Hölderlin-Gymnasium und das St. Raphael-Gymnasium initiiert, welches mit einer Gedenkfeier am 8. Mai 2015 abgeschlossen wurde. Das Projekt umfasste zwei Phasen, Arbeitsphasen verschiedener Schülergruppen und die Abschlusspräsentation. Während der Arbeitsphasen erarbeiteten sich ausgewählte Schülergruppen unterschiedliche pädagogische Zugänge, deren Ergebnisse dann bei der Gedenkfeier einem breiten Publikum präsentiert wurden.
Eine 9. Klasse des Hölderlin-Gymnasiums führte insgesamt drei sehr unterschiedliche Zeitzeugengespräche: Mit Herrn Hans Flor, einem Heidelberger KZ-Überlebenden, mit Herrn Wilfried Wiegend, der als kleiner Junge das Kriegsende in Eppelheim erlebt hat, und mit Herrn Prof. Dr. em. Hartmut Soell, der insbesondere über seine Kindheit im Elsass berichtete. Aus jedem dieser Gespräche sollten Schülergruppen von je vier Schülern einen kleinen Film schneiden. Neben der konkreten Auseinandersetzung mit Geschichte lernten sie dabei auch den medialen Umgang mit solch aufzeichneten Gesprächen kennen.
Ein anderer Teil dieser Klasse hatte die Aufgabe, das Kriegsende und den Neuanfang nach der Stunde-Null mit Hilfe authentischer Quellen aus dem Heidelberger Stadtarchiv zu rekonstruieren. Dabei stand das Stadtarchiv, insbesondere repräsentiert durch Herrn [Vorname?] Berger, dem Projekt sehr offen gegenüber und ermöglichte den Schülern einen sehr konkreten Zugang, der sie dank der Authentizität der Materialien fesselte. Auf Grundlage der Materialien würde eine Präsentation vorbereitet, die den Alltag der Heidelberger unmittelbar nach dem Kriegsende darstellte.
Als dritten primär historischen Zugang setzte sich der vierstündige Geschichtskurs des Hölderlin-Gymnasiums mit der bundesdeutschen und der regionalen Erinnerungskultur auseinander. Beispielsweise hatte eine Gruppe die Aufgabe, für den 8. Mai 1945 eine fiktive Gedenkfeier zu erdenken. Als Ort wählten sie ausgerechnet die Thingstätte in Heidelberg aus, was sie damit begründeten, dass man gerade an diesem Ort ein Zeichen setzen könne. Denn gerade dieser Ort habe mittlerweile seine Bedeutung geändert, als ein Ort gelebter Demokratie. Eine andere Gruppe rekonstruierte im RNZ-Archiv, wie mit dem 8. Mai 1945 und anderen besonderen Daten der deutschen Geschichte – z.B. dem 27. Januar oder dem 9. November – in der RNZ umgegangen wurde. Eine dritte Gruppe verglich die Kriegszeit und das Kriegsende in Heidelberg und Mannheim.
Neben dem historischen Zugriff wurden auch Ansatzpunkte in den Fächern Kunst, Deutsch und Philosophie gesucht. So hatte der Philosophiekurs des Hölderlin-Gymnasiums die Aufgabe, einen philosophischen Essay zum Projektthema zu verfassen. Als Anregung für diese sehr intellektuell-individuelle Auseinandersetzung dienten Textauszüge von Ruth Klügers „Weiterleben“, die philosophische Dekonstruktion des Films „Shoa“, die philosophisch-ethische Problematisierung von sogenannten „Schreckensbildern“ aus den befreiten KZs sowie die inhaltliche Behandlung der Erinnerungskultur am Beispiel des kulturellen Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann sowie der Walser-Bubis-Debatte. Zwei der eingereichten Essays wurden bei der Abschlusspräsentation von den Autorinnen selbst vorgelesen.
Darüber hinaus inszenierte eine Theaterklasse der Stufe 9 des Hölderlin-Gymnasiums eine kurze Theaterperformanz, die sich auf Zeitzeugenberichte bezog. Mit dramatischer Musik untermauert, spielten die Schüler auf abstrakte Weise verschiedene Momente des Kriegsendes nach, um dadurch die Multiperspektivität der so genannten „Stunde-Null“ zu umreißen.
In einem künstlerischen Projekt sollten die Schüler einer 10. Klasse des Hölderlin-Gymnasiums ein Denkmal zum 8. Mai 1945 für die Stadt Heidelberg entwickeln. Dabei wurde ein Denkmalwettbewerb nachgespielt und zwei Schülergruppen präsentierten ihren Entwurf bei der Abschlusspräsentation. Ausgewählt wurde zum einen ein Modell zweier sich durch einen Stacheldraht greifender Hände, die sowohl konkret die Befreiung der Konzentrationslager als auch abstrakt die Befreiung von Diktatur und Krieg darstellten. Zum anderen zeigte der zweite Entwurf einen etwa 20 Meter langen Gang, an dessen Wänden verschiedene Bilder zum Thema des „Zweiten Weltkriegs“ hingen. Am Ende des Ganges war schließlich eine Tür, auf der „8. Mai 1945“ als Datum stand, welche den Schritt in die Freiheit symbolisierte.
Schließlich hatte eine 9. Klasse des St. Raphael-Gymnasiums die Aufgabe, literarische Texte zur Epoche der „Trümmerliteratur“ zu verfassen. Neben einer von Studenten der PH Heidelberg erarbeiteten Stationenarbeit zu Textsorten der Epoche fand im „Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma“ eine Schreibwerkstatt statt. Die Schüler verfassten dabei sehr unterschiedliche Gedichte, Briefe, Kurzgeschichten und Dialoge. Bei der Abschlusspräsentation wusste ein Dialog zwischen zwei heimkehrenden Soldaten zu überzeugen, die sich im Rahmen der Wirren des Kriegsendes wiedertreffen und völlig unterschiedliche Sichtweisen auf das Erlebte haben. Dieser Dialog zeigt deshalb sehr gut, wie verschieden das Kriegsende für die damaligen Zeitgenossen war. Für viele war der 8. Mai 1945 geleichbedeutend mit einem Aufatmen und der Gewissheit, dass der Krieg nun endlich vorbei war, aber es gab auch diejenigen Täter und Mitläufer, denen Vergessen und Verdrängen ein vordergründiges Ziel waren. Trotzdem waren alle Menschen, so wie der eine Soldat im vorgetragenen Schülertext, aufgefordert, ihr ganzes bisheriges Wertesystem infrage zu stellen.
Zur Gedenkfeier am 8. Mai 2015, zu der sich etwa 250 Zuschauer im Hörsaal 1 der PH Heidelberg einfanden, kamen neben den Schülern viele Eltern, Kollegen und Interessierte. Eingeleitet wurde die Feier von einem Grußwort von Theresia Bauer, der Baden-Württembergischen Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur, und einem Vortrag von Prof. Dr. Cord Arendes, dem Geschäftsführenden Direktor des „Zentrums für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften“, zum Thema „Kalendarische Gedächtnisstützen – 70 Jahre 8. Mai 1945“. Anschließend folgten die verschiedenen Präsentationen.
Abgerundet wurde die Veranstaltung mit einer Abschlussdiskussion, in der die Leitfragen des Projekts aufgegriffen wurden: Müssen wir 70 Jahre nach Kriegsende an diese Zeit erinnern? Wenn ja, wie müssen wir daran erinnern?
Ausgehend von den philosophischen Essays wurde in der Abschlusspräsentation deutlich, dass Schüler heute, 70 Jahre nach Kriegsende, gewisse Schwierigkeiten haben, die historische Verantwortung zu übernehmen und zu tradieren. Dazu können jedoch Zugänge, wie sie den Schülern im Rahmen des Projekts geboten wurden, einen ganz entscheidenden Beitrag liefern, das historische Erbe, das sich aus der NS-Zeit ergibt, weiterzutragen und gleichzeitig die Schüler für die Geschichte zu begeistern.
Matthias Kneller und Dr. Bertram Noback
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