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Koloniale Spuren in Heidelberg? Ein Beitrag zur politisch-historischen Bildung in der Schule

Die aktuell in Deutschland und in der Welt vorherrschende politische Situation stellt vor allem die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer Geschichte und Gemeinschaftskunde einmal mehr vor die Herausforderung, die Schülerinnen und Schüler einerseits zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, andererseits die demokratischen Werte innerhalb der Gesellschaft zu pflegen und immer wieder neu für sie einzustehen. Diese politische Situation zeichnet sich durch unterschiedliche Entwicklungen aus. Aktuell leben wir in einer von Globalisierung geprägten Welt, die sich momentan durch zwei konfliktbergenden Situationen auszeichnet. Dazu gehören einerseits die Flüchtlingsbewegungen, die Europa betreffen und die angehörenden Länder allein aus humanitären Gründen dazu verpflichten, sich der Situation zu stellen, zu helfen, zu integrieren und Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft zu erarbeiten. Andererseits lässt sich im Zuge der Flüchtlingsbewegungen der Aufstieg nationaler Parteien mit teilweise rechtskonservativer Ausrichtung und Wahlen von autoritären Regierungsführern erkennen, die wiederum die oben genannten Aufgaben erschweren oder ablehnen. Diese Ablehnung erfolgt in großen Teilen in Form von populistischen Äußerungen, die sich Vorurteilen und Stereotypen bedienen, die nicht neu sind, sondern historische Wurzeln haben.

Im Kontext dieser Entwicklungen verfolgte meine schriftlich dokumentierte Unterrichtseinheit zum Thema „,Koloniale Spuren in Heidelberg?' – Ein quellenbasiertes Schülerprojekt in einer 10. Klasse eines Gymnasiums“, die ich im Rahmen meines Referendariats am St. Raphael Gymnasium anleitete, das Ziel, den Aspekt der politisch-historischen Bildung aus zwei Perspektiven aufzugreifen. Einerseits sollte der historische Blickwinkel Berücksichtigung finden, um grundlegende Aspekte und Formen des Kolonialismus im 19. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf dem afrikanischen Kontinent und damit ehemalige deutsche Kolonialbestrebungen zu erschließen. Dabei wurde ein starker Fokus auf die Quellenarbeit und die Förderung der Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler im Fach Geschichte gelegt. Andererseits sollten anhand von aktuellen Text- und Bildquellen Vorurteile und Stereotypen erkannt und kritisch hinterfragt werden, die sich wiederum auf koloniale Denkmuster zurückführen lassen. Hier lag der Schwerpunkt auf der Reflexionskompetenz bzw. der Förderung einer kritischen Urteilsbildung der Schülerinnen und Schüler. Sie sollten in die Lage versetzt werden, koloniale Spuren in Form von Vorurteilen und Stereotypen über vermeintlich „fremde“ Menschen zu erkennen, kritisch zu reflektieren und anhand eigener Wertmaßstäbe zu bewerten. Damit erhält die politische Dimension Berücksichtigung, indem dieser geschärfte Blick es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, populistische Aussagen, Verallgemeinerungen und Diskriminierungen als Argumentationsstrategien von politischen Akteuren in der sie umgebenden Tagespolitik zu erkennen und zu hinterfragen. Das Fundament für diese Kritikfähigkeit bilden wiederum vertiefte historische Kenntnisse.

Die grundlegende Idee des quellenbasierten Schülerprojekts in Geschichte in der Klasse 10F am St. Raphael Gymnasium im aktuellen Schuljahr 2017/2018 war es, die Schülerinnen und Schüler an die Arbeit der Historiker und Historikerinnen heranzuführen, indem sie didaktisch nur bedingt aufbereitetes Quellenmaterial (Text- und Bildquellen) bearbeiteten, mit dem Ziel, ihre Methodenkompetenz und ihre quellenkritischen Fähigkeiten, auch in Hinblick auf die Kursstufe, zu vertiefen. Das Quellenmaterial wurde vom ehrenamtlichen Verein schwarzweis e.V. Heidelberg zur Verfügung gestellt, welcher seit einigen Jahren einen zweistündigen öffentlichen Stadtrundgang durch Heidelberg anbietet, der sich zum Ziel gesetzt hat, auf koloniale Spuren aufmerksam zu machen, die nicht unbedingt in einer Stadt wie Heidelberg zu vermuten sind. Einzelne Stationen des Stadtrundgangs waren noch nicht bzw. nicht in ihrer Gänze bearbeitet, weshalb sich eine Kooperation anbot. Hier setzten die Schülerinnen und Schüler an und erarbeiteten anhand der Textquellen (z.B. Zeitungen, Berichte, Vorlesungsverzeichnisse) und Bildquellen (Fotografien, Drucke, etc.) kurze Texte, welche neben den zentralen inhaltlichen Gesichtspunkten vor allem die Intention der Verfasser der Quellen in den Blick nahmen. Zwei Arbeitsblätter gaben den Schülerinnen und Schülern Hilfestellungen, die das quellenkritische Arbeiten fokussierten und grundlegende Quellenangaben lieferten. Der Fokus der Quellenaufarbeitung lag auf den in ihnen sichtbaren Einstellungen zur deutschen Kolonialpolitik und umfasste einen Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert bis zu kolonialpolitischen Aktivitäten vor bzw. während des Nationalsozialismus. Die so neu gewonnenen Erkenntnisse werden zukünftig Teil des kolonialen Stadtrundgangs von schwarzweiss e.V. und in den nächsten Monaten auch virtuell zugänglich sein. Die folgenden Texte, die von Luisa Pischon bzw. in einer Gruppenarbeit von Fenia Heitz, Emilia Kumler und Mirja Herold (alle Klasse 10F) verfasst wurden, sollen einen exemplarischen Eindruck der Ergebnisse vermitteln. Diese zeigen eine Entwicklung von der zunehmenden Begeisterung für koloniale Besitzungen bis hin zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust der deutschen Kolonien. Es wird deutlich, dass Kolonialpolitik weiterhin ein wichtiges Thema war und das Ziel der Wiedererlangung der Kolonien aktiv politisch verfolgt wurde.

Der Verfasser des Textes ist unbekannt, der Titel des Zeitungsartikels lautet „Was will der Frauenverband der deutschen Kolonialgesellschaft?“ und erschien am 26. Juni 1934 im Heidelberger Tagblatt. Die Aussagen stammen damit direkt vom Frauenbund, der einen Überblick über seine Arbeit gibt. Der Frauenbund hat fast 250 Ortsgruppen in Deutschland und Afrika, damit die „deutsche Jugend“ in den ehemaligen „Schutzgebieten“ erhalten werden kann; vor allem die „deutschen Werte“ sollen erhalten bleiben. Weiter wird die grundsätzlich schwierige Situation der Deutschen vor Ort angesprochen. So kämpfen Tausende von Deutschen auf dem „einst deutschen Boden“ um ihre wirtschaftliche Existenz. Kann ein Deutscher in dieser Situation vor Ort seinem Kind einen Schulbesuch ermöglichen? Hier tritt der Frauenverband in den Vordergrund, der deutsche Schulen und Schülerheime errichtet, um die Situation zu erleichtern. Der Frauenverband ermöglicht den Kindern, die jene Schulen besuchten, Stipendien zur Berufsausbildung in Deutschland, damit wenigstens die „Begabten“ die Heimat kennenlernen. (Luisa Pischon)

Der Text wurde von Dr. Häberle (1. Schriftführer) zum 25jährigen Bestehen (1886-1911) der Abteilung Heidelberg der deutschen Kolonialgesellschaft verfasst, die am 1. November 1886 gegründet wurde. Es werden zunächst einige allgemeine Punkte zur Gründung angesprochen, auch über ihr Wachstum im Deutschen Kaiserreich. Darunter fallen auch die jährlichen Hauptversammlungen bzw. die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, bspw. politischen Parteien mit kolonialpolitischem Interesse. Um auch die Gesellschaft vermehrt zu erreichen, werden pro Jahr fünf bis acht Vorträge mit kolonialpolitischen Inhalten für die Öffentlichkeit gehalten. Auch publizistisch wurde der Verein aktiv, indem er eine Bibliothek gründete und eine „Kolonialzeitung“ herausgab. Diese kann in städtischen Volkslesehallen eingesehen und gelesen werden, ebenso wie weiteres Informations- und Buchmaterial. Seit 1911 gibt es auch einen Frauenverband in Heidelberg, der an die deutsche Kolonialgesellschaft bzw. den Zweigverein Heidelberg angegliedert ist. Am Ende wird auf Reichskanzler Bismarck zurückgegriffen, der die Aussage machte, dass Kolonialismus nur dann möglich bzw. erfolgreich sei, wenn er von der Mehrheit der Nation getragen werden würde. Es gäbe aber immer noch Menschen, die der Kolonialpolitik skeptisch gegenüberstünden. (Fenia Heitz, Emilia Kumler und Mirja Herold)

Um die Suche nach kolonialen Spuren für die Klasse aktiv erlebbar zu machen und die im Rahmen der Quellenarbeit erworbenen Kenntnisse zu vertiefen, wurde in der folgenden Woche, am Donnerstag, den 12. Oktober 2017, der besagte Stadtrundgang mit der Klasse 10F unter der Leitung der Vereinsmitarbeiterin Frau Tatjana Poletajew durchgeführt. Sie führte uns über mehrere Stationen, vom Völkerkundemuseum bis hin zur Universität Heidelberg, wo vereinzelt Halt gemacht wurde, um die Schülerinnen und Schüler auf kolonialen Spuren aufmerksam zu machen. Während der erste Teil der Führung noch schwerpunktmäßig auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands ausgerichtet war, setzte sich der zweite Teil der Veranstaltung vor allem mit aktuellen Beispielen von kolonial geprägten Denkmustern und Stereotypen auseinander, die sich wiederum auf koloniale Aktivitäten zurückführen lassen, sich bis heute gehalten und teilweise Eingang in den tagespolitischen Diskurs oder die Konsumkultur gefunden haben. Konkret wurden vergangene und aktuelle Werbebeispiele in Gruppen diskutiert. Dabei wurde den Schülerinnen und Schülern vor Augen geführt, wie harmlos anmutende Werbung sich kolonialer Stereotype immer noch bedient, welche als gesellschaftlich akzeptiert gelten.

Nur wenige Wochen später lieferte wiederum ein großer Bekleidungskonzern, der besonders bei Jugendlichen beliebt ist, ein Beispiel für die oben genannten Schwerpunkte, welches eine direkte Anknüpfung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler bietet. In der Woche vom 8. Januar 2018 wurde eine Diskussion um die Werbung der Bekleidungsfirma H&M angestoßen, welches einen schwarzen Jungen mit einem Pullover werben lässt, der die Aufschrift „Coolest Monkey in the Jungle“ trägt und dazu geführt hat, dass H&M eine ausführliche Stellungnahme vorlegte, sich entschuldigte und diesen Pullover aus der aktuellen Kollektion nahm. Der Bekleidungskonzern musste sich herbe Kritik gefallen lassen und stieß die Diskussion um die „Sensibilität rassistischer Verunglimpfungen“ aufs Neue an.

In der Nachbesprechung in der darauffolgenden Woche wurde deutlich, dass den Schülerinnen und Schülern diese heute noch vorherrschenden kolonialen Denkmuster, die mit einer Vielzahl an Stereotypen und Vorurteilen einhergehen und immer wieder Eingang in Medien und Politik finden, vermehrt auffallen und kritisch beurteilt werden. Hier lassen sich wiederum diverse Anknüpfungspunkte für die politische Bildung finden. Im Kontext einer zunehmend von Migration und kultureller Vielfalt geprägten deutschen Gesellschaft treten vermehrt gesellschaftliche Diskussionen zu Tage, die, anknüpfend an das beschriebene Projekt, sich mit kolonialen Spuren auseinandersetzen und einen kritischen Umgang mit diesen fordern. Ein prominentes Beispiel sind Gruppierungen in deutschen Städten, darunter Berlin, Bremen und Hamburg, die sich für eine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit der genannten Städte einsetzen und eine Umbenennung der Straßennamen fordern; als prominentes Beispiel kann die vielfach verbreitete „Mohrenstraße“ genannt werden. Auch die geschichts- bzw. politikwissenschaftliche Forschung sowie politische Parteien nehmen sich dieser Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit an, was der Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 21. Juni 2017 zeigt. Nicht zuletzt Heidelberg sah sich jüngst mit diesem gesellschaftlichen Diskurs konfrontiert, als die Umbenennung der Columbusstraße durch schwarzweiss e.V. im Stadtteil Rohrbach gefordert wurde, was die Historische Kommission der Stadt Heidelberg ablehnte. Als Argumente für die Umbenennung wurden neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu Kolumbus und seiner Einstellung gegenüber der indigenen Bevölkerung angeführt und auf die Handhabung vor allem in den südamerikanischen Staaten verwiesen. Die kritische Betrachtung Kolumbus‘ zeichnet den dortigen gesellschaftlichen Diskurs aus, der vor allem im Zuge des 500-jährigen Jubiläums zu Tage getreten ist und von Umbenennungen bzw. Abschaffungen des Columbus-Tages (Peru, Argentinien, die USA) bis zu Zerstörungen von Kolumbusstatuen (Venezuela) reichte und international hohe Aufmerksamkeit erlangte.

Einen zweiten, aktuell diskutierten Anknüpfungspunkt bieten Parteien wie die AfD und Bewegungen wie Pegida oder die Identitäre Bewegung , die immer wieder durch populistische und rassistische Äußerungen auf sich aufmerksam machen und damit wiederum die angesprochenen Stereotypen und kolonialen Denkmuster aufgreifen, verbreiten und junge Menschen beeinflussen können. Dazu gehören persönliche Anfeindungen und Betitelungen wie „kleiner Halbneger“, wie sich der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier über Noah Becker äußerte, sich im Anschluss massiver Kritik ausgesetzt sah und mit rechtlichen Folgen rechnen muss. In eine ähnliche Richtung äußerte sich der AfD-Parteivorsitzende Alexander Gauland über den deutschen Fußballnationalspieler Jérôme Boateng („Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“). Ein weiteres aktuelles Beispiel liefert die kurzfristig abgesagte Sendung des MDR am 17. April 2018, die den Titel „Politisch korrekt? Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ tragen sollte und unter anderem die ehemalige AfD-Politikerin Frauke Petry, die sächsische Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz von der Partei „DIE LINKE“ und den Politikwissenschaftler Dr. Robert Feustel aus Leipzig als Gäste geladen hatte. Hier sah sich der MDR für seine auf Twitter getätigte Aussage „Darf man heute noch Neger sagen?“ einer Welle an Empörung gegenüber, was die ursprünglich eingeladene Kerstin Köditz zur Aussage bewog: „Weiße unterhalten sich, wie man schwarze Menschen betiteln darf. Das ist für mich Kolonialismus“.

All diese Äußerungen machen deutlich, dass der Ton der politischen Debatten rauer geworden ist und sich Parteien wie die AfD nicht davor scheuen, politische Diskussionen auf Populismus, Vorurteilen und Stereotypen aufzubauen, die eingängig formuliert und aufmerksamkeitserregend verbreitet werden. Gerade der Weg über die sozialen Medien ermöglicht eine rasche Verbreitung dieser Äußerungen und eine ungefilterte Wiedergabe, die schnell junge Menschen und damit Schülerinnen und Schüler erreichen kann. Hier muss im Sinne der historisch-politischen Bildung angesetzt werden. Dies geschieht, indem eine bewusste Auseinandersetzung mit derartigen Äußerungen in den Unterricht integriert wird, um für deren diskriminierende Bedeutung zu sensibilisieren und ein kritisches Hinterfragen von Tagespolitik und aktuellen politischen Diskussionen zu fördern. Auf diese Weise können die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern unterstützt werden. Sie können postkoloniale, diskriminierende Denkmuster identifizieren, bewerten und in einem letzten Schritt selbst dafür eintreten, dass solches Gedankengut wie die oben genannten Äußerungen auch in Zukunft kritisch kommentiert und verurteilt werden.

Steve Bahn

Der Artikel wird in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift "Forum" der Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg erscheinen (S. 34-45).

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